Weshalb auch.
Für wen auch.
Jene Stadt, wunderbar ob der Gegenwart des Sees zur Sommerzeit und transzendent ob der Schneestürme zur Winterzeit, hatte außer der bitteren Armut, der vergeblichen Schönheit und der Verrücktheit, die im übrigen jeder Stadt der Welt eigen ist, auch noch einen verrückten Dichter.
Die Stadt war zu klein und zu verschlossen
gegenüber der Welt, als daß sie zwei oder mehrere Dichter dieser Art hätte
haben können. Der verrückte Dichter der Stadt war sehr anziehend, da man aus
ihm nicht klug wurde, ob er nun eher ein Dichter oder eher verrückt war, und
sich niemand mehr erinnern konnte, wann er damit begonnen hatte, verrückt zu
werden oder Gedichte zu schreiben. Er lebte im Erdgeschoß eines Gebäudes, das
vom schöpferischen Aufschwung des patriotischen Arbeitseinsatzes übriggeblieben
war, in der Nachbarschaft einer fast ständig abwesenden Horde von Bärenführern,
deren Verschläge die unübertreffliche Sinnlichkeit des Nomadentums verströmten
und damit die gesamte Vorstadt erfüllten.
Er war ein Mann ohne Alter, ohne Zähne,
ohne viel Haar auf dem Kopf, ohne viel Kopf auf den Schultern, den Leib steif
gereckt, als würden seine Schultern von einem Kleiderbügel an einem
unsichtbaren Haken gehalten. Das Fehlen der Zähne und das stets unrasierte,
aber nie behaarte Gesicht verliehen ihm die Anmutung eines Tieres, das dazu
verdammt ist, just dann zu erstarren, wenn es sich anschickt, seine
geschlechtliche Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Er trug immer ein
erdfarbenes Stoffsakko und ein Hemd, das wohl gleich nach dem ersten Hemd
dieser Welt genäht worden war; die Arme hingen allzulang herab, und statt eines
Gürtels und eines Reißverschlusses hatte er seine Hose mit einem, wie er ihn
genannt hatte, gestutzten, also stachellosen Draht zusammengezurrt.
Morgens zog er mit jener schmerzlichen
Überheblichkeit der Verrückten und jener berückenden Ausstrahlung der armen und
im Oberstübchen nicht mehr ganz heilen Dichter durch die Innenstadt, verharrte
einen Augenblick vor dem Denkmal der Märtyrer des Volkes, grüßte ehrerbietig
die bedeutendsten in Marmor gehauenen Vertreter und ging dann zum abertausendsten
Mal seinen immergleichen Spazierweg ab, wobei er langsamen Schrittes sämtliche
Gäßchen der Stadt beseelte. Nachmittags spazierte er am Seeufer entlang, unter
den von süßer Ironie und bitterem Mitleid kündenden Blicken der sonnenbadenden
Frauen oder unter den leicht wehmütigen Blicken der alten Touristen, die ihre
steifen Glieder in der Sonne lockerten oder den grauen Strand mit ihren
Fotoapparaten rhythmisch beleuchteten, während die Möwen Kreise und andere
geometrische Figuren durch den Flockenwirbel zogen, bevor sie in weniger
schöne, aber auch weniger langweilige Himmel entschwanden.
Der Dichter wandelte durch das immer
unbegreiflichere Gewirr der Jahreszeiten, den Blick starr zu Boden gerichtet,
ohne irgendjemanden zu grüßen, ohne von irgendjemandem gegrüßt zu werden, kein
anderer Einwohner der Stadt schrieb Gedichte, sie hatten keine Ahnung, was
Poesie ist, sie meinten, es handelte sich um das Symptom eines Todes, das
ausschließlich Verrückte befiel, während der Dichter wissen mochte, daß die
Stadt ihn längst in eine vergessene Ecke ihres fleischfressenden Gedächtnisses
verbannt hatte, bis zu der nicht einmal die Müllmänner vordrangen; ganz wenige
Menschen, in der Mehrzahl versoffene Intellektuelle, erinnerten sich dann und
wann an ihn. Nur die Kinder sprachen ihn oft auf der Straße an, nach einem
Ritual, das einst jene Kinder entdeckt hatten, die jetzt schon beinahe alt
waren, und baten ihn, etwas vorzutragen. Der Dichter blieb stehen, ohne sie
anzusehen, sammelte sich, als sei ihm die unglaubliche Ehre zuteil geworden,
einem über die Gleichgültigkeit der Stadt erhabenen Wesen zu begegnen, reckte
seinen ohnehin sehr geraden Leib und rezitierte. All die letzten dreißig Jahre
hindurch rezitierte er Gedichtchen aus seinem noch unveröffentlichten Band mit
dem Titel „Ich rage wie das Gras, sie ragen wie die Sichel“. Beim Vortrag
machte er wegen der fehlenden Zähne, nach denen die Kiefer in unstillbarer
Sehnsucht entbrannt schienen, den Eindruck, als kaute er etwas. Eigentlich
wußte niemand, wovon sich dieser verrückte Dichter oder dichtende Verrückte
ernährte. Man munkelte, daß er von seinen Urgroßeltern ein Stück Land geerbt
hatte, einen Obstgarten mit Apfelbäumen und einen Weinberg hinter dem
Gemeindebad gegenüber dem Stadion, aber der Verrückte, der einzige Nachkomme
einer unbedeutenden und beinahe erloschenen Familie, der jenes Stückchen Grund
mit niemandem hätte teilen können, hatte es verkommen lassen. So waren die
Bäume, von Würmern befallen, eingegangen und die Reben von einer Krankheit namens Aschenbrand dahingerafft
worden, worauf die ungeliebten und unbehausten Liebespärchen der Stadt jenen
verwucherten kleinen Garten zu einem Liebesnest unter freiem Himmel verwandelt
hatten.
So war der Dichter ohne sein Wissen und
Zutun Besitzer eines Bordells geworden, in dem die Sünden zu mehr als der
Hälfte unmittelbar im Angesicht des Himmels begangen wurden und das demnach
dieser seiner Sünden zu mehr als der Hälfte ledig war.
Sobald er mit seinen Versen geendet und den
Dank oder den verhohlenen Spott der Kinder mit traurigem Lächeln quittiert
hatte, ging der Dichter weiter und hielt auf der Spitze eines Hügels inne, der
der Stadt im Osten vorgelagert war. Auf jener Spitze über dem See, der ein
schimmerndes Licht verbreitete, oder unter den kristallenen Schleiern des
Schneefalls, gefeit vor neugierigen Blicken und kleinstädtischem Klatsch, zog
der verrückte Dichter seinen rechten Schuh aus, streifte den Wollstrumpf ab,
der an eine Henkerskapuze erinnerte, und kurierte durch geduldiges Verharren an
der Sonne – wenn sie denn schien – eine bläuliche Wunde unbekannter Herkunft.
Während er wartete, sagte er gerne leise
vor sich hin:
„Ja. Ihr fürchtet Krankheiten, die euch den
Tod bringen können, und betet darum, nicht sterben zu müssen. Was bitte schön
werdet ihr tun, wenn jene Krankheiten kommen, bei denen ihr euch den Tod
sehnlichst herbeiwünscht, er aber nicht kommen wird, euch zu holen?“
Während er diese Sätze wiederholte,
wenngleich sie den schweren Dunst der Teilnahmslosigkeit, der über der Stadt
lag, keineswegs zu zerstreuen vermochten, vervollkommnete er seine einstweilen
unveröffentlichten Gedichte und arbeitete an den noch ungeschriebenen sowie an
den Gedichtchen, die er den Kinderchen rezitierte.
Die Wahrheit ist, diese seine Gedichte
hätte jeder Säufer oder frisch verliebte Banause, wie sie in den Kneipen der
Stadt herumhingen, aufsetzen können, aber keiner dieser vermeintlichen Rivalen
war so verrückt wie der verrückte Dichter, und dieser fürchtete keinen Rivalen,
wäre er auch noch so verrückt oder anders verrückt gewesen.
Im Schweigen jedoch, einem Schweigen der
absoluten Art, konnte der verrückte Dichter gar keinen Rivalen haben.
Jahrelang hatten die Einwohner der Stadt
den verrückten Dichter verspottet und ihn zum Inbild des harmlosen Trottels
gemacht, der in seiner Verrücktheit wohnt, gebannt von der Überzeugung, daß er
allen Unrat unserer weisen Welt von Grund auf kennt, eines Trottels, welcher
dergestalt ein komisches Opfer aller möglichen Welten bleibt. Manche sagten, er
sei vor Zeiten, als der Wolf noch Jungfrau war oder die Urgroßmutter ein
Hündchen oder sonst etwas in der Art, weder Dichter noch verrückt gewesen. Nur
ein einfacher, stattlicher, schüchterner Jüngling, der sich bis über beide
Ohren in ein ebensolches Mädchen verliebt und es sogar geschafft hatte, sie zu
heiraten. Das Mädchen war schön und sehr brav, vielleicht sogar braver, als es
hätte sein müssen, und wohl deshalb hatte der künftige Dichter und Verrückte
sie, ohne es zu wollen, in den glutvoll berauschenden Stunden der Hochzeitsnacht
irgendwo in den Hals gebissen. Die frischgebackene Braut war, verletzt und
entsetzt von jenem verzweifelten Versuch, dem Unsagbaren eine Sprache zu
verleihen, heulend und laut fluchend in ihr Elternhaus geflohen. Dort befanden
der Vater und die Brüder der Braut im Angesicht des blau unterlaufenen Belegs
für das Unsagbare – das Zeichen sah aus wie eine Taschenuhr –, daß dem
Bräutigam die Stunde geschlagen hatte, und machten sich auf die Suche nach derBestie.
„Du bist also sowas wie ein Hund, du Scheißkerl!“
brüllten die Rächer, als sie die Bestie gestellt hatten.
Und sie verabreichten ihm eine epochale
Tracht Prügel von der Art, wie sie einen mit der Gabe auszustatten vermag, in
Zungen zu reden.
Andere wiederum sagten, der Dichter habe
sein Dichtertum aus ganz und gar anderen, viel banaleren Gründen entdeckt, als
da wären abgründige Langeweile, wiederholter Streit mit den Nachbarn, die
Erweiterung des Ozonlochs, der Ruin der Möbelfabrik, das Verderben des Weins in
den Fässern, der Tod dieses oder jenes Führers, dieser oder jener
Modeprinzessin, der offenkundige stückweise Ausverkauf des Landes der Vorväter
usw.
Viele Winter nach dem Tag, an dem die
Stunde geschlagen hatte und der auf dem öffentlichen Jahrmarkt der
Meinungen in der Stadt schon zum Mythos geworden war, sah man den Dichter in
den verwinkelten Straßen mit einer Schaufel in der Hand. Rezitiert hatte er
schon für die Kinder der Weltkriege, für Pioniere und Demokraten, für Helden,
Heldinnen, Veteranen und Tapfere, für strahlende Sieger und elende Verlierer;
jetzt waren auch in der Stadt neue und irgendwie verständnisvollere,
menschlichere Zeiten angebrochen.
Als sie ihn mit der Schaufel in der Hand
sahen, verspotteten sie ihn gemeinsam nach dem alten Ritual. Sie sagten, er sei
der schwarzen, weißen oder grauen Magie verfallen, er sei ausgezogen, die Stadt
von einst wiederaufzubauen, die Zwischenkriegsvillen wieder zu errichten, die
schon lange vom Erdboden des Gedächtnisses verschwunden waren; sie sagten, er
habe begonnen, die Wüstenei des seiner Sünden zu mehr als der Hälfte ledigen
Bordells zu bearbeiten, das er von den Vorfahren geerbt hatte; sie sagten, er
sehe in der Schaufel ein Kreuz, die heiligen Gebeine irgendeines von den
ausgemerzten Heiligen, eine Waffe zur Verteidigung, ein okkultes Heilmittel,
eine gut beißbare Geliebte usw. usf.
Selbst mit der Schaufel in der Hand ließ er
weder von den poetischen Spektakeln ab noch von den täglichen Spaziergängen
oder der Behandlung der bläulichen Wunde unbekannter Herkunft. Irgendwann
gelangten die Einwohner der Stadt zu der Überzeugung, daß der verrückte Dichter
eher verrückt sei als ein Dichter, allerdings kein simpler Verrückter, sondern
ein „verrückter Dichter mit Schaufel“. Das Gedächtnis der Stadt verblaßte auf
die ihm eigene Art, sie begannen ihn anders wahrzunehmen, untrennbar verbunden
mit seiner geheimnisvollen Schaufel.
Just von diesem Augenblick an ward der
Dichter in der Stadt nicht mehr gesehen.
Er war verschwunden und brachte so seine
Landsleute dazu, auch seiner zu gedenken, anfangs noch nachlässig, nur so, daß
man mitreden konnte, mit leichter, wehmütiger Ironie, sofern die Ironie von
Menschen, denen der Tod nicht mehr wer weiß was zu rauben vermag, überhaupt
leicht und wehmütig sein kann, sodann mit jener ätzenden Neugier der Verbitterten,
die ihre gute Meinung über das eigene Schicksal zu bestätigen suchen, indem sie
sich an den erschütternden Einzelheiten fremder Heimsuchungen weiden.
Die Bärenführer, eine bis zur
Scheeläugigkeit besoffene Horde, die gerade erst wieder ihr Lager in der Stadt
aufgeschlagen hatten, rannten die Tür zu seiner Wohnung ein, um Knoblauch oder
Schnaps oder Spiritus zu verlangen, trafen ihn jedoch nicht an. Um ihn aus dem
Keller seiner Angst zu scheuchen, setzten sie ihre Bären als Spürhunde ein,
doch die Witterung der Hunde war durch die Alkoholdünste schon abgestumpft. Sie
suchten ihn dennoch, scheeläugig, wie sie eben waren, weshalb sie immerfort
zusammenstießen, gegen Türen, Wände, Bäume prallten, Treppen hinunter und über
Bären oder Hunde stürzten, was scherte es sie, schließlich gaben sie die
Nachforschungen auf. Andere Nachbarn suchten ihn bis in den letzten Winkel der
Stadt, am Ufer des Sees, auf dem Friedhof, im Irrenhaus, im Knast, bei allen
berüchtigten Huren, in den grauen Fluten des Sees in der Erwartung, jeden
Augenblick seinen von Fischen angefressenen Leichnam auftauchen zu sehen,
vergeblich. Es mußten noch geschlagene zwei Wochen vergehen, zwei der
wunderbaren Wochen jener Stadt mit einem „verrückten Dichter mit Schaufel“, die
seit zwei Wochen niemanden hatte, den sie wohlfeil verspotten konnte, bis
schließlich der langerwartete Kadaver gefunden wurde.
Drei Monate lang, immer zur Stunde der
Dämmerung, hatte der Dichter nach und nach in einer weniger besuchten Ecke des
von den Vorvätern geerbten Bordells eine Grube ausgehoben. Eines Abends im
Herbst, da auch die illegitimen und obdachlosen Pärchen ausblieben, war der
Dichter in aller Ruhe in die im Verlauf geschlagener drei Monate ausgehobene
Grube gestiegen und hatte sich – wie, vermag niemand zu sagen – mit dem
ererbten Erdreich, das er mit niemandem hatte teilen können, zugedeckt. Keines
der Pärchen verlor auch nur ein Sterbenswörtchen über jene Mulde, die sich
Abend für Abend tiefer senkte; einige versteckten sich sogar darin, wenn eine
Polizeistreife vorbeikam. Es fiel den Einwohnern der Stadt auch ziemlich
schwer, nach dem Ableben des verrückten Dichters mit der Schaufel zu begreifen,
wie der Tote es geschafft hatte, sich so gut mit Erde zuzudecken, fast so gut,
wie ihn ein Totengräber vom Fach oder irgendein anderer lebendiger Mensch
zugedeckt hätte.