Totengräber gehen nie vor dem ende de films

Der Doktor war merklich gealtert, und das ganze Jahr, das nun sein letztes zu werden schien, hatte er nur noch von seinen Eingeweiden geträumt. Sie sahen aus wie die Gedärme von jemand, der in den Strahl eines Flammenwerfers geraten ist. Dem Doktor schien, sie hätten sich aus lauter Verdruss über den Eigensinn, mit der er an der Ausübung seines Gewerbes festhielt, in Kohle verwandelt. Aber mit dem Nachlassen dieser Sturheit war so schnell nicht zu rechen, obwohl ihm die meisten seiner Kranken in diesem Jahr unter den Händen weggestorben waren. Da der Doktor ein überaus redlicher Mann war, machte ihm die Vorstellung schwer zu schaffen, dass die unter seinen Händen Wegsterbenden den ungenutzten restlichen Teil ihres Lebens womöglich auf ihn übertrugen. Diese besondere Art der Unsterblichkeit war ihm so unerträglich wie jede andere Unsterblichkeit, aber trotzdem hörte er nicht zu praktizieren auf.

Als in den Morgenstunden des letzten Tages im November ein kleines Mädchen das Zeitliche segnete, während er es gerade behandelte, hatte es der Doktor eilig, sich in dem Raum einzuschließen, in dem man sich die Hände wusch, und er wusch sich die Hände gleich mehr als zehnmal, als gehe es darum, wenigstens die unabsichtlich begangenen Sünden von der Haut zu waschen, wenn sich diese schon nicht ganz abschrubben ließ. Er konnte sich nicht recht vorstellen, dass die Ahnen beglückt gewesen waren, als er die in einem noch nicht zehnjährigen Leib wohnende Seele vor der Zeit zu ihnen entlassen hatte, und das Wasser erschien ihm noch schimpflicher als sonst: ein Saft, der schwerlich Leben spenden konnte, wenn er noch nicht einmal dazu taugte, Verzweiflung abzuwaschen.

An diesem Morgen schleppte er sich mit altersschweren Schritten durch die Straßen der Stadt, und die Geschäfte waren verwaist, die Bäume: tot, selbst die Krähen krächzten nicht, so dass die Stadt einem überdimensionierten Gerichtssaal glich, in dem schon der Weg nach vorne eine einzige Pein war. Die Augen des verstorbenen Mädchens gingen ihm nicht aus dem Sinn; sie waren schon blicklos gewesen, ehe sie völlig erloschen. Manchmal hatte der Doktor das Gefühl, dass Sterbenskranke ohne Alter waren, dass sie durch die Räume und Katakomben der Zeit irrten, bis sie endlich zu dem Zustand fanden, der auch ohne Mitwirkung einer Krankheit zum Tod gereicht hätte. Auch das kleine Mädchen war auf diese Art alterslos gewesen. Der Doktor grüßte die wenigen Mitbürger, die den November mit ihm teilten, nur, weil die Macht der Gewohnheit es so wollte, doch sein Blick ging durch sie hindurch.

Das Einschlafen fiel ihm entsetzlich schwer, weil er ständig damit rechnete, Wiedersehen mit seinen Eingeweiden zu feiern, doch schließlich glitt etwas unter ihm weg, und er fand sich in seiner Jugend wieder, einen spitzen Schnurrbart im Gesicht, auf dem Kopf einen steifen Hut, gekleidet wie für eine Abendgesellschaft. Mit allen kränkenden Details durchlebte er noch einmal jenen Tag in Paris, als er sich in eine schimmelige Wohnung geschlichen hatte, um zwischen den Schenkeln einer Hure Abschied von seiner Unschuld zu nehmen. Er hatte das Weibsbild geliebt, und diese Erfahrung hatte ihn anders als die meisten Männer gelehrt, die Augen nicht mehr vor den teuflischen Seiten der Liebe zu verschließen. Jetzt entkleidete sich die Hure erneut vor ihm, ihre schwellenden Rundungen, die an den Erdball erinnerten oder ein in der Mitte eingeschnittenes Hochzeitsbrot, verwirrten seine Sinne, und es drängte ihn, sie sich zu fassen. Doch obwohl er nicht weniger Mann war als ein halbes Jahrhundert zuvor, scheiterte die Annäherung. Sie lächelte ihn schelmisch an und ließ seinen mit so vielen Tagen pariserischen Fastens erkauften steifen Hut auf dem Zeigefinger der linken Hand kreisen, bis er aus dem Traum auffuhr und im heftigen Kampf mit den Schleiern des Schlafes an den Rücken seiner Gattin prallte, den sie ihm genauso zugewandt hatte wie das Glück den seinen.

Er stöhnte die denkbar artigsten Entschuldigungen und haderte mit dem Herrn, der sich bei aller göttlichen Weisheit mit dem Stolz der Männer ein wenig vertan hatte: waren diesen doch die Tränen versagt geblieben, jene kindlichen Tränen, die in nur zehn Minuten die Seele spiegelblank zu waschen vermögen.

Das Frühstück stand auf dem Tisch bereit: Schwarzbrot, vier schrumpelige Oliven, ein Ei, eine große Tasse Kaffee, doch ihm dünkte, er habe bereits mehr Morgenmahlzeiten zu sich genommen, als für ein Leben vorgesehen war, er habe sein Brot gebrochen für alle, die ihm unter den Händen weggestorben waren, und so ging er in den Garten hinaus, um den Geruch des kleinen Todes los zu werden. Wie verzwickt das Dasein doch war! Die einen, von denen man ewiges Leben erwartet hatte, starben urplötzlich, und die anderen, bei denen man eigentlich jeden Tag mit dem Schlimmsten rechnen musste, schlugen den himmlischen Mächten ein Schnippchen und wurden alt und runzelig. Oder es gab einer den Löffel ab, der schon die ganze Zeit auf dem letzten Loch gepfiffen hatte, und steinalt wurde der andere, der im Leben nichts ausgelassen hatte, als gäbe es gar kein Ende. Jedenfalls glaubte der Doktor immer noch nicht, dass man starb, wenn es für einen Zeit war. Sonst hätte es ihm nicht so zu schaffen gemacht, wenn die Leute scharenweise weggerafft wurden, und er hätte vielleicht einmal einen Tod akzeptieren können, der eigentlich nicht zu akzeptieren war.

Die Blumen neben dem Pflaster prunkten heiter, wahrscheinlich hatte der Tau ihre Farben entflammt. Der Doktor streckte sich und trieb im Geiste Frühsport. Der Garten war total verwildert. In den Äpfeln nagten die Würmer, aus den Weinstökken ließ sich wohl leichter Suppe gewinnen als Rebensaft; der Zaun war schief und krumm und sah aus wie ein Haufen geköpfter, siecher, führungsloser Soldaten in schludrigem Gänsemarsch. Die Pflastersteine waren von schwarzen Adern überzogen. Nur ein Bombe hätte in diesen Garten Ordnung schaffen können, in dem die Blumen zitterten, als gehörten sie in eine andere Historie, als seien sie Blüten auf der einstigen Seele des Gartens. Er dachte noch immer über die Blumen nach, als ihm seine Gattin vom Balkon aus einen guten Morgen wünschte, begleitet von dem Kommentar, er sei heute aber spät aufgestanden. Als ob ich dem Grab entstiegen wäre, dachte er ärgerlich. Du wirst schon noch erleben, wie es ist, wenn ich einmal gar nicht mehr aufstehe und du den Ruinen einen guten Morgen wünschen darfst.

Aber weil Ärger bei alten Leuten nicht lange anhält, zwinkerte er gleich darauf seiner Frau so vergnügt zu, wie er es gewesen wäre, hätte er sich tatsächlich gerade aus dem Grab erhoben. Sie war immer noch sehr hübsch, und das Alter sah man ihr nicht an. Gewöhnlich atmete sie lieber die häusliche Luft und blieb in ihrem Zimmer, lag im Bett oder saß am Tisch, und dem Doktor schien es manchmal, die Jahr, die auf ihn drückten, steigerten bei ihr nur die Anmut. Aber Neid empfand er keinen, auch an diesem Morgen nicht, obwohl ihr Liebreiz geradezu einschüchternd war.

Es war die Schönheit von Dingen, die uns gerade deshalb lieb geworden sind, weil wir sie bald nicht mehr sehen werden.

Ob sie sich erinnere, wann genau er diesen Ausgehhut gekauft habe, wollte er von ihr wissen. Vor den Flitterwochen oder nachher? Während der Flitterwochen hast du ihn gekauft! Vermutlich, um sein Gehirn zu schonen, das glühte von der Hitze des Bettes, göttlichen Sonnenuntergängen, Schiffsausflügen und teuren Abendessen in königlichen Restaurants mit silbernen Bestecken unter prächtigen Kandelabern.

Der Doktor zog sich gemächlich an; es fiel ihm nicht ganz leicht, sich einzugestehen, dass er nicht mehr zu den Frischesten gehörte. Es war fast, als legte er sich Bandagen an. Seine Frau offerierte ihm als Unterstützung noch einen Kaffee, aber er lehnte ab und verbrachte mehr als eine Viertelstunde mit den Schuhen, weil er die Löcher für die Schnürsenkel nicht fand. Der Doktor war nämlich abergläubisch, und weil es hieß, Krawattenknoten, Schuhbänder und dergleichen brächten Unglück übers Haus, löste der Doktor abends vor dem Schlafengehen sämtliche Schnürsenkel sowie alle Knoten in Krawatten und Taschentüchern, und manchmal sogar den Knoten seiner Hemmungen.

Seine Gattin verabschiedete sich, indem sie ihm zulächelte und von oben eine Blume zuwarf. Diese wurde von den Strahlen der Herbstsonne zerhäckselt und verschwand im Bruchteil eines Augenblicks knapp vor des Doktors Wimpern.

Bestimmt hatten ihn seine Augen getrogen, oder seine Nase. Der Doktor trat auf die Straße, ohne eine Idee zu haben, wohin die Blume entwichen sein konnte, aber er scheute sich, bei seiner Gattin nachzufragen, ob der Blumenwurf vom Balkon aus tatsächlich stattgefunden hatte, weil sie die Anfrage bestimmt als Ausdruck geistiger Verwirrung betrachtet hätte, und wahrhaftig, er musste übergeschnappt sein, wenn er sich nach dreißig Jahren eine so herzliche Verabschiedung überhaupt noch vorstellen konnte.

Wann kommst du heim?, fragte sie von oben.

Wenn es soweit ist und ich nicht irgendwo auf der Strecke bleibe, antwortete er. Und wo bist du zu finden, falls dich jemand sucht?

Dort, wo man stirbt, wenn es an der Zeit ist, scherzte er.

Der Duft der Blume war immer noch da. Er blinzelte zu seiner Frau hinauf, und die Furcht schnürte ihm die Kehle zu, sobald er sich abwandte, werde der Engel des Todes dieses Wunder aus seinem Leben tilgen. Dann sagte er noch:

Bring mir morgen früh meinen Koffer ins Spital. Welchen, fragte sie.

Den hölzernen. Du weißt schon. Bring ihn selbst, schicke keinen anderen. Keine Sorge.

Bring ihn unbedingt.

Und sie verließen einander. Die Gattin raubte der Engel der Anverwandten, die man nie mehr wieder sieht, während der Doktor vom Engel des Todes zur passenden Zeit mitgenommen wurde.

Gegen Mittag packte ihn die Sehnsucht nach den Dingen, die noch zu erleben ihm verwehrt sein würde, und er ging aus, um einen Kaffee mit Kognak zu sich zu nehmen. Die Lappalien des Alltags fraßen ihn auf, und es hätte ihn nicht gewundert, wenn sein bereits graues Haar noch einmal ergraut wäre. Bis dahin war ihm noch niemand unter den Händen weggestorben. Sein Lieblingsgehilfe begleitete ihn. Sie wählten einen Tisch am Seeufer aus, unter ein paar Pappeln, die vom Herbst durchgeschüttelt wurden. Dem einschläfernden Rauschen der Bäume war nicht zu entnehmen, ob sie die Emigration ihrer Blätter billigten oder verurteilten.

Jäh und mit der Bestimmtheit des Todes befiel ihn Nostalgie, oder besser, es handelte sich um eine schwindelerregende Klärung seiner Erinnerung. Das war nicht mehr dielieb gewonnene Kollektion von Panoramen, Aromen und Klängen, sondern ein Wirrwarr von manchmal ganz zusammenhanglosen Szenen, Bruchstücken seines Lebens, die er unter Zugaben oder Macht der Gewohnheit abgelegt hatte. Er ertappte sich bei einem Seufzer: "Wenn man nur wüsste ..." Wenn man nur wüsste, warum wir uns an bestimmte Dinge erinnern und an andere nicht. Oder? Der andere nickte. Er nickte nur lächelnd. Man hätte schwören mögen, er sei nur zum Nicken auf die Welt gekommen. Die Erinnerungen überkommen einen ganz unerwartet, wie die Liebe oder der Durchfall. Der andere lächelte und nickte. Der Doktor verlor den Faden. Es schüttelte ihn bei der scheußlichen Vorstellung, die abgerissenen Teile dieses Fadens wieder miteinander verknüpfen zu müssen. Wo waren wir stehen geblieben?, fragte er. Sie waren in seiner Jugendzeit stehen geblieben, bei seinem Professor. Ja, ja, der selige Professor! Der hatte erst einen richtigen Menschen aus ihm gemacht. Dabei hatte er diesen Professor instinktiv gehasst. Ein langer, dürrer Mensch, wie aus einem Eisblock gehauen, mit einem Gehirn, das sekundengenau ging wie eine Atomuhr. Schon damals hatte er sich der Erforschung des Gens der Unsterblichkeit gewidmet, wie es inzwischen ja bei einer Fliege entdeckt worden war. Zusätzlich erforschte er auch den Rachenkrebs. So ist das nun einmal bei uns Menschen! Wir sind Sklaven von ein paar unerklärlichen Empfindungen, wissen nicht, wen wir hassen und wen wir bewundern sollen, und noch weniger, weshalb. Jedenfalls war ihm der Professor mit seiner unablässigen Nörgelei, seinen ständigen Versuchen, ihn klein zu machen, gewaltig auf die Nerven gegangen. Mit der Zeit war er allerdings etwas umgänglicher geworden, hatte ihn sogar operieren und andere Dinge tun lassen, die bis dahin ihm selbst vorbehalten gewesen waren. Das war keine Frage des Alters. Doktoren kannten damals kein Alter, sie waren auf ewig unfehlbar. Kurz vor des Doktors Rückkehr nach Albanien hatte ihn der Professor sogar zu einer Tasse Kaffee eingeladen und sich mit ihm unterhalten wie mit einem Gleichgestellten. Es ging um intime Bekanntschaften, ums Trinken, um die Liebe, um die merkwürdigen Seiten der menschlichen Natur. Und wenn man dich damit beauftragen würde, die Studien über die Unsterblichkeit und den Rachenkrebs an meinem Körper fortzusetzen?, fragte der Professor plötzlich. Der Doktor, damals noch ein junger Mann voll angebrachter und unangebrachter moralischer Regungen, die so leicht zu entzünden waren wie trockenes Stroh, protestierte heftig. Warum eigentlich?, wunderte sich der Professor. Warum ihm der Gedanke, seines, des Professors, Bauch zu öffnen, so schrecklich erscheine? Dann lachte er und fügte hinzu, dieser vorauseilende Schrecken sei doch nichts anderes als unser aller Angst vor uns selbst, die angeborene Gewissheit, ein jeder Mensch sei zu allem fähig. So war er nun einmal, der Professor: er legte die Dinge schonungslos bloß, und man kam sich bei ihm stets wie ausgezogen, operiert und unvernäht wieder angezogen vor. Langweile ich dich?

Keineswegs, antwortete der andere.

Wahrscheinlich erzähle ich die Geschichte schon zum dritten Mal? Nein, nein, es ist das erste Mal, dass Sie von diesen Dingen sprechen.

Sie nahmen beide noch einen Schluck Kognak.

Der Professor hatte sich nun einmal in den Kopf gesetzt, seinen Körper der Forschung zur Verfügung zu stellen. Unverkennbar die Todessehnsucht eines Greises! Der Gehilfe lachte nun nicht mehr, sondern nickte nur noch. Die Absicht des alten Mannes, sich selbst dem Wissensdrang des jungen Volkes zum Opfer zu bringen, und sei es auch nach dem Tode, war dem Doktor absurd erschienen. Seine Bewunderung für den Professor war viel zu groß, als dass er sich ihn vor den Studenten auf dem Tisch liegend hätte vorstellen können, aufgeklappt wie das regennasse Zelt eines wandernden Zigeuners. Mehrfach hatte er ihn umzustimmen versucht. An totem Fleisch mangelte es nicht, es gab genug davon, um die Hunde damit zu füttern. Der Leichenvorrat der Forschungseinrichtungen und medizinischen Fakultäten war so groß, dass er für drei aufeinander folgende Generationen von Doktoren ausreichte: anonyme Mordopfer, Häftlinge, Greise aus dem Asyl und verzweifelte Menschen, die testamentarisch ihre Leiber der Forschung vermacht hatten, gegen Bezahlung, um damit ihren Familien finanziell auf die Beine zu helfen. Es war wirklich zu verrückt, dass ein so angesehener Mann unbedingt das Schicksal namenloser Leichen teilen wollte. Doch noch nicht einmal durch Gevatter Tod selbst hätte sich der Professor umstimmen lassen. Mit ein paar schroffen Sätzen fertigte er den Doktor ab. Er habe durchaus nicht vor, die Flüsse oder Hügel mit seiner Asche zu vergiften. Und noch weniger sei ihm daran gelegen, die Würmer zu mästen. Was ich nicht vollenden konnte, wirst du einmal zu Ende bringen, hatte er zum Doktor gesagt. In Wahrheit hatte er ihn, ohne ihn etwas merken zu lassen, Schritt für Schritt genau dazu ausgebildet, stets wissend, dass er sich auf ihn absolut verlassen konnte. Geradezu überflüssig war da die Bemerkung des Professors, dass es in seinem Leib mittlerweile viel mehr Krebs als Unsterblichkeit gab.

Und haben Sie ihm seinen Wunsch erfüllt?

Erst hatte der Doktor behauptet, sofort nach Albanien zurückkehren zu müssen, um sich aus der Affäre zu ziehen. Doch der Professor hatte mit einer knappen Frage die Sache auf den Punkt gebracht: Glaubst du nicht, dass es auch in Albanien genug Leute wie mich gibt?! Womöglich war es so, dass er an einer ganz neuen, noch unbekannten Krankheit litt, die sich bis zu den alten Tagen des Doktors zur gefährlichsten Seuche auf dem Erdball entwickelt haben würde. Niemand konnte wirklich ausschließen, dass der Professor in seinem Kampf gegen den Krebs zum ersten Opfer einer Krankheit geworden war, die durch das Bemühen um die Heilung des Krebses und die Entdeckung des Gens der Unsterblichkeit hervorgerufen wurde ...

Ein erneuter Schluck aus dem Kognakglas setzte weitere Erinnerungen frei, und der Doktor meinte, es sei vielleicht besser, wenn sie nun gingen. Beim langen Sitzen verlernte er das Gehen, mindestens kam es ihm so vor. Vielen geht es so mit dem Schwimmen.

Sie bezahlten und traten hinaus auf den Spazierweg, der inzwischen nicht mehr so belebt war wie am Morgen.

Ein tückischer Regen fiel direkt auf das Herz, ohne die Kleider zu nässen. Das Krankenhaus war noch verlassener als der Spazierweg.

Der Doktor zog seinen weißen Mantel an, nahm den Hut ab und ließ ihn auf dem Zeigefinger kreisen wie damals die Liebesdienerin, die seiner Knabenzeit ein Ende gesetzt hatte. Etwas, das einer roten Quaste glich, brachte ihn zum Lachen: Seine Frau hatte tatsächlich eine Nelke vom Balkon heruntergeworfen. Ich muss ausgesehen haben wie ein unverbesserlicher Liebhaber von Hochzeiten oder Beerdigungen, dachte er.

Der Gehilfe harrte der Befehle.

Ich bin alt geworden, sagte der Doktor zu ihm, jede Nacht träume ich von meinen Eingeweiden, aber nur noch ganz selten von Frauen. Sollte ich einschlafen, so wecke mich, wenn du mich brauchst. Hoffen wir auf jeden Fall, dass sie uns keinen von Kugeln zersiebten Pechvogel hereinbringen und uns niemand unter den Händen wegstirbt.

Der andere nickte lächelnd.

Morgen früh, fuhr der Doktor fort, bringt mir meine Frau ein Holzköfferchen. Bitte geh hinunter und nimm es entgegen, dann bringst du es zu mir.

Ich bin neugierig, was in diesem Koffer ist, sagte der andere. Morgen früh wirst du schon sehen, antwortete der Doktor.

Der Gehilfe wollte noch eine Zigarette rauchen, bevor er sich auf die Jagd durch die Zellen machte, in denen Kreaturen zwischen Leben und Tod schwebten, einem Tod, der Erlösung bedeutete, und einem immer hoffnungsloseren Leben. Die Lichter der Stadt zeigten ihm deutlich, dass alles noch unzerstört war, dass die hübschen Larven des goldenen Zeitalters noch immer auf dem Boulevard spazieren gingen, in den Straßencafés Kognak tranken, unter kahlen Pappeln umherzogen und durchaus nichts von dem wissen wollten, was ihnen einmal bevorstand. Er zog mit einem verlorenen Ausdruck auf dem Gesicht an seiner Zigarette und musste an den vergangenen November denken, als der Doktor mit einem kleinen Holzkoffer durch die Straßen der Stadt gegeistert war, der wie ein Säuglingsschrein oder Zeitsarg (so nannte der Doktor scherzhaft die Uhren) aussah. Wie es hieß, hatte er diesen Koffer auch auf seine letzten beiden Auslandsreisen mitgenommen und legte ihn noch nicht einmal im Kino aus der Hand, wo er seit einem viertel Jahrhundert immer auf dem gleichen Platz saß, damit man ihn im Notfall nicht lange suchen musste. Niemand wagte ihn nach dem Inhalt des Koffers zu fragen. Selbst die Polizei hatte ihn ihn Ruhe gelassen. Wohl nahm man an, dass er darin Arzneien oder teure Instrumente aufbewahrte, aber da er ihn bei seinen Hausbesuchen zu später Stunde nie geöffnet hatte, war die Neugier der Bürgerschaft ungestillt geblieben.

Wenn ich recht überlege, konnte ich mir noch nie einen Film bis zum Ende anschauen, murmelte der Doktor beleidigt wie ein Kind. Was wäre wohl geschehen, wenn ich bei Filmen, die mir besonders gut gefielen, den Platz gewechselt hätte?

Der andere zuckte mit den Schultern.

Der Doktor schlummerte ein, ohne wirklich zu wissen, ob seine Nelke nun, Ende November, wirklich echt war.

Seine rechte Hand ruhte auf dem Herzen, gleichsam ein Salut an all die Filme, die er sich nicht bis zum Schluss hatte anschauen können.

Der andere zog die Decke des Nachtwächters über ihn und machte sich auf die Jagd.

Mehrmals während der Nacht kam er herein, um nachzuschauen.

Erst als die Fensterscheibe ihre Spiegeleigenschaften verlor und die Konturen seines Gesichts sich in dem Glas auflösten, entspannte der andere sich allmählich und fing an, sich leicht, fast gewichtslos zu fühlen. Er hatte das Gefühl, die Luft im Bereitschaftsraum sei besser als sonst. Selbst die Stadt mit ihren schiefen Dächern, mit den Straßen und Mauern, die einander zu belauschen schienen, seit es Menschen gab, kam ihm erträglicher vor. Erst jetzt begriff er, dass er die ganze Zeit mit an die Scheibe gelehnter Stirn auf den Morgen gewartet hatte.

Als draußen auf dem Flur die Putzfrauen mit ihren Eimern zu klappern begannen, entdeckte der andere auf dem Weg von der Stadt zum Krankenhaus die Silhouette einer stattlichen, adretten, schwarz gekleideten alten Dame, die unter dem Arm ein Holzköfferchen trug.

Zehn Minuten später befand sich das berühmte Köfferchen in seinen Händen. Der Professor, murmelte er, der Professor ...

Einen Moment lang meinte er, der Doktor wolle sich nie mehr von seinem Lager erheben, und erschrak entsetzlich. Doch dann begann dieser mit geschlossenen Augen zu lächeln, reckte sich ein wenig und reichte ihm einen kleinen, leicht angerosteten Schlüssel, der wohl zum Koffer gehörte.

Also dann, sagte er, ohne die Augen zu öffnen, du kannst anfangen, wenn du möchtest ...

Der andere war so neugierig auf den Inhalt des Holzköfferchens, dass er für den Doktor noch nicht einmal eine jener Allerweltsantworten übrig hatte, die das Zusammenleben annehmbarer machen.

Im Koffer befand sich ein Schurz aus sehr dünnem weißen Leinen, noch ein bisschen dünner und weißer als ein Leichentuch, dazu eine Schere, ein paar Garnrollen und all das Kleinzeug, das man zum Öffnen eines menschlichen Körpers benötigt.

Auf ihnen lag der Glanz seelenloser Dinge: man hätte schwören mögen, sie hätten jahrelang dafür gebetet, endlich ans Licht befördert zu werden.

Sie konnten es kaum erwarten, zum Einsatz zu kommen.

Der andere lief eine Weile planlos im Zimmer umher, den offenen Koffer in der Hand, und versuchte den Gedanken los zu werden, dass zwischen ihm und diesen glänzenden Werkzeugen kein großer Unterschied bestand. Sie waren völlig neu und unberührt, so wie vor einem Jahr, als der Doktor mit diesem Zeitsarg in der Hand durch die Straßen der Stadt gegeistert war, auf dem leicht gereizt wirkenden Gesicht eines jener bitter süßen Lächeln, die der Seele womöglich mehr Wissen schenken als das Wissen selbst.

Aus dem Albanischen von Joachim Röhm ©