„Geld, Armut und Leben finden deine Kinder auch allein, aber solche Bücher wie diese nicht …”
Er musste die Bücher wie
seinen Augapfel hüten. Sein Vater hatte sie den Kindern vom Mund abgespart, um
sie kaufen zu können. Der Erbe konnte nicht wissen, dass das stalinistische
Regime ab der Mitte der 50er Jahre eine Reihe von Büchern, hauptsächlich
Hauptwerke albanischer und ausländischer Autoren, verboten hatte. Den Besitzern
dieser Bände, die sie in den Altpapiersammelstellen nicht abgegeben oder in
ihrem Hausgarten nicht verbrannt hatten, drohten drakonische Strafen. Indessen
taten diese Bücher, wie die Mehrheit von ihnen überhaupt, nichts anderes, als
dass sie die Menschen kommender Generation aufklärten, wie dieser Planet
zerstört wird, welche hochherzigen Gefühle nicht mehr wiederbelebt werden und
wie die menschliche Seele zu einem neutralen, aber dennoch käuflichen Objekt
wurde.
Erschüttert kaperte der Erbe
ein Fischerboot, füllte es mit den hinterlassenen Büchern und steuerte die
Staatsgrenze in der Mitte des Ohridsee an. Zunächst wurde er von niemandem
vermisst. Er war so unwichtig, dass er nicht vermisst werden konnte! Er ahnte
jedoch den Wert der Bücher. Wenn sie nichts bargen, das mindestens die
Lebensdauer des Regimes überstieg, wenn sie keinen Widerstand leisteten und
zwischen den Deckeln keine Kraft bargen,
die nahezu ein Zwilling mit der politischen Macht war, hätte sie der Staat nicht
verboten. Warum hatte der Staat zum Beispiel nicht das Brot verboten?
Der Erbe übertritt ohne
Schwierigkeit unsere Grenze, aber er betritt nicht die Gewässer des
Nachbarstaates. Für uns ist er jetzt ein Volksfeind und für jene möglicherweise
ein Geheimagent.
Er bleibt in den neutralen
Gewässern stehen. Wenn er zurückkehrt, erwartet ihn ein Golgatha, wenn er
weiter fährt, können ihn die Nachbarn so foltern, dass er ihre „Kunst”
akzeptiert, d.h. dass er schwört, dass er - dank ihrer Schläge usw. - wirklich
ein Spezialagent der Sicherheitsorgane ist, ein Agent, der die Mission hat,
unseren Landsleuten, die allmählich ihre Sprache und Bräuche verlieren, Bücher
in der Muttersprache zu bringen. Die Nachbarn haben schon immer gewusst, dass
sich auch in einem einzigen Satz hinter den Metaphern, den Beschreibungen der
Natur und des Wetters, hinter einem Augenblick der Lobpreisung oder der Trauer
der Code eines sehr gefährlichen Spionagenetzes verstecken kann.
Die Bücher im Boot könnten
jetzt mit anthologischer Aufmerksamkeit gelesen werden, so wie nur ganz wenige
Bücher überhaupt gelesen wurden und wie sie nur von spezialisierten Lesern
durchgearbeitet werden können. Der Flüchtling bleibt in neutralen Gewässern. Es
ist, als ob er nie zuvor in den eigenen Gewässern gewesen wäre. Um den Hunger
und die Angst zu vergessen, aber auch um besser zu verstehen, warum sein Vater
diese Ziegelsteine aus Papier so sehr liebte, beginnt er zu lesen. Er liest nur
am Tag, weil beim Anbruch der Nacht niemand ohne Licht lesen kann. Er liest und
wartet, dass die unsrigen oder die Nachbarn den entscheidenden Schritt tun. Er
kann sich nicht leisten, vor Hunger umzufallen und er ist gezwungen zu essen.
Bücher. Am Anfang reißt und isst er die weißen Teile, die unbedruckten. Aber er
kommt schnell bei Seiten mit Buchstaben an. Erst jetzt wird er zum
Literaturkritiker und plagt sich mit Zweifeln, was er verschont und was er in
Fäkalien verwandelt. Was soll eigentlich gegessen werden: die gelungenen
Textteile oder die Anhänge? Wo ist die literarische Botschaft langlebiger:
Nachdem sie sich in chemische und nicht nur chemische Elemente des Organismus
aufgelöst hat oder wenn sie auf dem Papier aufbewahrt wird?
Die Grenzer der zwei Staaten
haben den Erben eingekreist und warten. Sie können ihn nicht umbringen, weil
dann rauskommen würde, dass keines der Regimes - ansonsten in ideologischer
Gegnerschaft - demokratisch ist, und dass sie die menschlichen Grundrechte
schwerwiegend verletzen, wie das Recht, in neutralen Gewässern zu wohnen, zu
lesen und sich vom Papier zu ernähren. In der Zwischenzeit grübelt der
Flüchtling über ein universales Dilemma: Welche Seiten soll er letztendlich
essen und welche nicht? Von welchem Autor? Welche Thematik soll die Nahrung
enthalten? Einige von den Seiten haben ihm beim Lesen außerordentlich gefallen.
Da hat er die rettende Idee. Er sucht die Lieblingsseiten aus, reißt sie
aufmerksam raus, als ob sie Kinderhaut wären, sammelt und ordnet sie
hingebungsvoll und isst das andere Papier. Beim Essen segnet er die Autoren,
von denen es etwas zu essen gibt, aber verflucht diejenigen nicht, an denen man
Hungers stirbt. Zum Glück gibt es von den letzteren nur wenige. Aber nach einer
gewissen Zeit sieht sich der Papieresser gezwungen, auch die ausgewählten
Seiten zu essen. Verzweifelt bewahrt er jetzt nur Absätze, manchmal nur noch
einen Satz, ein Wort, ein paar Satzzeichen, die Leerstellen zwischen den
Wörtern und Buchstaben auf. Da erscheint ihm im Boot ein kleines Buch ohne
Titel (oder mit einem aus einem anderen Buch entlehnten Titel) zwischen den
Deckeln eines anderen Buches, unter dem Namen eines anderen Autors oder ohne
den Namen eines Autors, – und das ist die Gelegenheit, dass wir ganz ernsthaft
fragen: Ist dieser Erbe und Grenzüberschreiter Leser oder Autor?
Wie kann man einen solchen
Schriftsteller oder Leser der Gnade von ein paar balkanischen Grenzern der 50er
Jahre überlassen? Besonders nach dem II. Weltkrieg hat sich gezeigt, dass die
Wirklichkeit eine grenzenlose und oft beleidigende Phantasie hat. Aber die
Schreibkunst scheint nicht nur am menschlichsten, sondern auch am mächtigsten
zu sein, und der Mächtigste ist nicht der, der hat, sondern der, der wählt.
Also habe ich einen Autor der neutralen Gewässer gewählt, ich habe ihm einen
Namen gegeben, ich ermöglichte ihm von Zeitungsseiten und von Buchteilen zu
leben, die nicht mehr verdienen, als dass sie gegessen werden, und ich ließ ihn
auf die Kälte der Grenzer zu treffen, die keine Schicksale lesen können, in
einem inmitten von Gewässern geschriebenen Roman, die zwei von den
Balkanliteraturen vereinen oder trennen. Dann begann ich Teile aus dem
Romanmanuskript zu essen. Als ich satt wurde, las ich, was ich nicht aufessen
konnte. Ich versichere, dass ich wirklich nicht mehr Seiten essen und dass ich
auch nichts mehr außer den obigen Zeilen retten konnte, und dass mich mit
Ausnahme des TODES nichts mit dem Tod bedrohte.
Aus dem Albanischen von Zuzana Finger