Als SIE und ich gelernt hatten, uns ohne Blasen
zu verständigen, wurde die Zahl derer, die uns suchten, kleiner. Weil auch die
Großeltern, Eltern, Freunde und Feinde eines Tages müde wurden oder die
Hoffnung verloren. Wir beteten nur, dass sie uns nicht beweinen, wie Ertrunkene
beweint werden. Vielleicht hätten wir uns etwa einen Monat vor der Flucht mit
allen zerstreiten, sie aufs bitterste enttäuschen, ihnen unverzeihliche Dinge
antun, ihnen die Wunden und Kratzer aufreißen sollen, die ihnen nur ein äußerst
teurer Mensch hätte zufügen dürfen (denn es ist bekannt, dass nur Gott Gott
ist, sagte sie mir). Wir haben es jedoch nicht zustande gebracht. Wir wussten
nicht einmal, dass wir jemandem Geld schuldeten - und wir blieben an dem Tag
ohne Blasen, an dem Männer und Frauen verschiedenen Alters, kurz nachdem auch
der geduldigste Verwandte weggegangen war, der Reihe nach kamen und uns die
Schulden aufzählten. Wir stellten ihre Wörter und Sätze in Versen zusammen und
fragten einander mit den Augen. Die Gedichte klangen mehr oder weniger wie
folgt:
Eine filterlose Zigarette / einen Kaffee mit
Zucker / einen Tee /
Einen Apfel / zwei Kakis mit schwarzen Samen /
ein Rechenblatt /
Zehn alte Lek / fünf neue Lek / einen Dollar /
Drei dünne Bücher / zwei dicke Bücher / der
Autor ist jetzt nicht wichtig /
Eine Feder / zwei Tintenfässer / einen
Füllfederhalter / ein Bonbon
Ein Wappen / zwanzig Briefmarken / einen bunten
Hund / einen Kanarienvogel /
Ein Fernglas mit einem Rohr, ein Monokel mit
zwei Linsen, eine blaue Feder / einen Bootsausflug /
Zwei Federspitzen / eine grüne Bluse / einen
Pinsel / ein Zeichenheft
Einen Silberring / zwei Kleiderbügel / drei paar
Ohrringe / eine Glitzerkrawatte / Vier Goldringe / zwei mit Edelsteinen / einen
mit Adlerkopf /
Einen mit Schlangenkopf / ein Sandwich / zwei
Oliven / einen Krug / acht Teller/
Einen Weinberg auf der Burg / zwei Hühner / eine
schwarze Kuh / zwei Hähne /
Und so weiter. Nur Gott hat uns kein einziges
Mal gerufen. Entweder weil er die SEHNSUCHT ist und alles sieht oder weil er
der SCHMERZ ist und alles erträgt oder weil er nie endet.
Mit der Zeit wurden die letzten Verse dicker und
schwerer und sie nahmen die Form von Staatschulden an. Sehr selten, wie um den
bösen Blick oder irgendeine schwarze Magie zu bannen, kam heraus, dass wir auch
einen Kuss, ein Augenblinzeln, eine Berührung in der Dämmerung, einen hastigen
Atemzug, der den Schlaf und die Träume zerstörte, ein paar Schlafstörungen, ein
paar Schlaflosigkeiten und ein paar Kinokarten schuldeten.
Wir haben nicht geantwortet, denn - das wäre der
Gipfel - sie hätten noch geglaubt, dass wir verrückt geworden oder ertrunken
sind. Also waren wir gezwungen, uns wie zwei Ertrunkene zu verhalten. Aber wer
war schon imstande gewesen, dank des Ertrinkens so viel Liebe, Aufmerksamkeit,
Hingabe gewaltsam einzuheimsen, umso mehr von einigen Menschen, die uns
freigiebig alles kostenlos gaben, bis hin zum Neid, Hass und Treuebruch?!
Wenn die Jahre nicht so schnell vergangen wären,
hätte uns vielleicht die Tatsache leidgetan, dass sie uns missverstehen oder
uns für etwas halten, was wir nicht sind. Vielleicht hätten wir uns bemüht,
ihnen zu erklären, sie zu überzeugen, dass es um etwas ganz anderes geht. Aber
die Zeit verging anders in der Welt der Blasen und der unendlichen Wasser und
Himmel.
Als ob sie uns in unserem Stolz verletzen
wollten, begannen sie, nacheinander oder auch in kleinen Chören, in denen
Unterwasserklänge und -wörter aufeinander gepfropft wurden, ein Poem, das sich
gleichsam anschickte, Homer oder auch den produktivsten unter den
Lahutaspielern in den Bergen aus dem Gedächtnis zu löschen. Eines Tages fragte
sie mich mit den Augen, ob wir vielleicht, während wir uns mit der Übersetzung
jener Verse beschäftigten, die Zeit angetrieben oder ihr geholfen haben,
schneller zu vergehen. Oder verging die Zeit einfach so, auch wenn man schweigen
und die Menschen und Wesen nicht in einer Reihenfolge anordnen würde, die sich
unvermeidlich in Zeit verwandelt?!
Komm, mein Sohn, meine Tochter, der und der, die
und die, dein Opa wartet auf dich, deine Oma wartet auf dich, deine Mama wartet
du dich, dein Papa wartet auf dich, deine Schwester wartet auf dich, dein
Bruder wartet auf dich,
deine Freunde warten auf dich, deine
Freundinnen, deine Erzieherin, deine Lehrerin, die Wache wartet auf dich.
Komm, mein Sohn, komm, meine Tochter, die Oma
ist von uns gegangen, der Opa ist von uns gegangen, die Mama ist von uns
gegangen, der Papa ist von uns gegangen,
die Berliner Mauer ist gefallen.
Komm, mein Sohn, komm meine Tochter, die Grenzen
wurden geöffnet, du kannst frei sprechen, ohne dich zu fürchten, du kannst
sagen, was du willst, du kannst schreiben, so viel du willst und was du willst.
Komm,
mein Sohn, komm, meine Tochter, wir haben uns
mit Amerika ausgesöhnt, auch mit Russland, auch mit China, auch mit den meisten
Ländern von Ex-Jugoslawien.
Kommt, damit du siehst, wie die Häuser in die
Höhe schießen, Cafés, Businesscenter, Flugzeuge groß wie Stadtteile. Komm, die
Straßen werden länger, die die Herzen vereinen, die Telefonleitungen wurden
abgeschafft und jetzt werdet ihr Telefone wie Streichholzschachteln haben, voll
mit Bildern, Melodien, Vornamen, Nachnamen, Rufnamen, Zwischennamen und mit
Nummern, so viel ihr wollt, und mit Spielen, von denen ihr nicht einmal
geträumt habt, als
ihr geflohen seid.
Komm, sieh dir das Brautkleid an, das wir für
dich genäht haben, was für einen edlen Anzug du auf der Hochzeit tragen wirst,
was für Lackschuhe, was für eine Krawatte, was für Ringe wir für euch gekauft
haben,
Komm,
Papa, komm Mama, ich bin es, kennst du mich
nicht?! Komm, mein Herz, komm, mein Herz, wo bist du in Gedanken?! Lass uns
zusammen einen Kaffee trinken, in Paris, Barcelona, Rom, New York;
Abu Dhabi, wo du
willst. Komm, das Essen ist kalt geworden. Komm,
die Miete muss bezahlt werden. Komm, der Strom wurde uns abgestellt. Komm, das
Wasser wurde uns abgestellt. Komm, du wurdest beschimpft und verflucht. Komm,
ich bin ohnmächtig geworden. Komm, du wurdest in Abwesenheit zum Schweigen
verurteilt. Komm, der Präsident spricht. Komm,
alle regierenden Parteien haben sich versöhnt.
Komm, ich habe mir einen Dorn in die Ferse eingetreten. Komm, du bist Opa
geworden, komm, du bist Oma geworden, komm, du hast das Rentenalter erreicht,
komm, deine Memoiren wurden veröffentlicht, komm, man hat dich mit Dreck
beworfen, komm, du wurdest in den Himmel gehoben, komm, du hast den ersten
Preis, den zweiten, den dritten, noch mal den dritten, den Förderpreis
bekommen, komm, du hast im Lotto gewonnen, komm, man hat dir dein Grundstück
zerstückelt, komm, man hat dir das Haus weggenommen, komm, deine Grabstelle
wird unter einem anderen Namen geführt, komm ...
Das zweite Lied des Poems enthielt „Denn“ und
„Nicht“ und fuhr mit Vermutungen, Zweifeln und Erklärungen fort; begleitet von
Seufzern, traurigem Mundverziehen, Händeringen und Kopfschütteln zum Zeichen
von Trauer und Gram wie folgt:
Hörst du mich denn, siehst du mich denn, fühlst
du mich denn?!
Mein Herz hört mich nicht, seine Stimme
antwortet nicht, ich habe keine Stimme mehr, mein Herz, mein Augenstern ist
hin, die Fische fressen ihn, die fleischfressenden Pflanzen fressen ihn, wer
weiß, welche Tiere ihn fressen, wer weiß, wo seine Gebeine liegen, wer weiß,
wann er aufgefressen wurde, und ich suche ihn und ich trauere um ihn und ich
bin schlimmer hin als er, schlimmer als sie, schlimmer als sie beide.
Unter den langen Versen erschien gelegentlich
eine Zeile mit „Wieso denn überhaupt, warum denn eigentlich, oh, du meiner, oh,
du meine …“ Die Nomina wurden zu Pronomina, die Person in der Einzahl wurde
multipliziert, die Verbzeiten entgleisten, zerbrachen, verwelkten. Manchmal gab
es auch Beschimpfungen, Verleumdungen, Hohn und finsteres Lächeln, so dass wir
nicht wussten, was wir mit dieser Verbohrtheit, mit diesem Schweigen und mit
dieser Unersättlichkeit aneinander verloren haben. Denn es sind ja schon so
viele Jahre, so viele Einladungen, so viele Rufe, so viele Wehklagen, so viele
Menschen, so viele Filme, so viele Hoffnungsverluste passiert, und unsere
Unersättlichkeit aufeinander konnte wissenschaftlich auch als folgendes
beschrieben werden:
Entweder Verachtung, unerklärlicher Hass und
Rache an ihnen,
Oder eine nicht ausreichend erforschte
Krankheit, und folglich ohne Medikamente oder noch schlimmer, unheilbar
Oder eine Wahnsinnsliebe zu uns selbst,
Oder der Tod
Oder aber etwas anderes, worauf es keine Antwort
gibt.
Wir haben uns noch einmal in Erinnerung gebracht, ohne die Augen voneinander zu lassen, dass wir nicht wissen, wo wir unsere Körper haben und ob wir sie noch haben, und wir haben uns mit einer unbekannten Sehnsucht und mit einem Mitleid jenseits des Alters an die Anfänge jenes Ereignisses und an die innigsten Verse jenes Gedichts erinnert. Wir haben nur gewusst, dass die letzten, die über den Wassern oder unter dem Himmel rezitiert haben, ein paar gebeugte Grauköpfe waren, die uns PAPA, MAMA nannten und über jeden von uns eine Blume hinlegten, die nur den Sternen, den Augen oder den Schneeflocken nicht ähnelte. Nein, schrien wir mit Blasen, vor Freude und Bitternis - ohne zu wissen, ob wir in einem ähnlichen Fall ihnen gegenüber so gehandelt hätten wie sie uns gegenüber -, nein, Blumen legt man auf Tote, wir legen auf euch keine Blumen, nicht, weil wir es nicht können, sondern weil ihr nicht tot seid. Wir sind nur eines Nachmittags aus dem Kino gekommen, nichts weiter, dass ihr das wisst, nichts weiter, wir haben gedacht, dass wir am Abend im See schwimmen gehen, haben uns ausgezogen, haben die Sachen an der Schießscharte des Bunkers gelassen, damit sie nicht nass werden, falls es regnen sollte, und wir tauchten ein, um uns unter dem Wasser in die Augen zu sehen. Nichts weiter. Dann, ich weiß nicht, wie lange wir getrennt waren, kamen wir einander näher, um uns klarer zu sehen, weil das Wasser etwas vom Glas ohne Grenzen und Worte hatte, und wir sagten etwas, das in eine einzige Blase eingeschlossen wurde. Aber es kann einfach ein zurückhaltendes, weibliches Lächeln gewesen sein, weil sie begannen, nach uns zu suchen, uns zu rufen und mit Booten und Ferngläsern und Tauchern umherzufahren. Wer konnte schwören, dass es auf der anderen Seite des Wassers, auf der anderen Seite des Himmels oder allgemein auf der anderen Seite besser war?! Und wenn jemand schwor, was wäre es nach so vielen Jahren wert?! Es herrschte Stille, die wusste, dass wir weder das Gedächtnis von Fischen, noch Herzen aus Stein, sondern nur die Seele verliebter Kinder hatten.